Schmerz kennt viele Umschreibungen, viele Attribute, Schmerz ist negativ besetzt, niemand verbindet damit etwas Positives.
Es ist eine junge, attraktive Frau die über Schmerz spricht, sogar über einen starken Schmerz, schier unerträglich ist er und ich kann mich mit ihrer Forderung, ‚da muss jetzt endlich etwas passieren‘ problemlos identifizieren.
Welcher Mann fortgeschrittenen Alters fühlt sich nicht angesprochen, wenn eine junge Frau mit hilfesuchendem Blick vor ihm sitzt, natürlich werde ich helfen!
„Wo hängt es denn, wo sitzt ihr Schmerz?“
Ein kurzer Blick aus vorher niedergeschlagenen Augen, ihre linke Hand schlägt leicht auf die linke Hüfte, ‚hier drin und schon eine ganze Zeit‘. ‚Manchmal ist es ganz schlimm!‘ Wieder der Hilfe heischende Blick, ‚hier drin sitzt es, hier in der Hüfte’.
Ihre Hand bleibt auf der Hüfte liegen, ein kurzer Blick und ich habe das Gefühl den Schmerz förmlich durch den Stoff der sehr engen Jeans zu sehen, ich glaube zu spüren ,wie sich eine schmerzende Entzündung wie eine gierige Schlange durch die schlanke Hüfte frisst und ihr schier unerträgliche Schmerzen bereitet.
Hilfe muss her!
‚Was haben sie schon alles gegen den Schmerz unternommen?‘
Ein Wortschwall bricht los, Hausarzt, Chirurg, zuletzt der Orthopäde, der Physiotherapeut, zum Teil habe sie Behandlungen selbst bezahlt, hier schleicht sich eine Träne in den linken Augenwinkel, niemand hat ihr helfen können. Physiotherapie, Krankengymnastik, jetzt ein TENS-Gerät, wochenlang hat sie sich mit Schmerzmitteln vollgestopft, nichts hat geholfen und an die Medikamente hat sie sich schon gar nicht gewöhnen wollen, ‚man hat ja schon soviel über Nebenwirkungen gehört und ausserdem kann man ja davon abhängig werden‘.
Jetzt erwägt sie, sie sagt wirklich ‚erwägt‘, in ihrer Verzweiflung, ob sie sich nicht einem Heilpraktiker anvertrauen soll, der sich in ihrer Nähe niedergelassen hat. Die Nähe ist relativ, 50 Kilometer muss sie ungefähr fahren. Der Schmerz muss schlimm sein, wer fährt sonst soweit, nur pure Verzweiflung treibt den Menschen dazu.
Sie schildert die bisherigen therapeutischen Bemühungen mit hoher Emotion, sie benennt ihre Enttäuschung, alles, wirklich alles hat sie bereits unternommen, niemand hat ihr geholfen, sie ist enttäuscht, schlimm enttäuscht. ‚Aber von mir, von mir hat sie nur Gutes gehört, deshalb ist sie jetzt vor dem Heilpraktiker noch zu mir gekommen, sie ist überzeugt, ich und nur ich werde ihr helfen.‘ Ich fühle mich so geschmeichelt, dass mir nicht in den Sinn kommt, dass es durchaus diesen und jenen Patienten geben muss, der nicht gut von mir spricht, wie es eben nach rund 40 Jahre als Arzt so ist.
Ich werde ihr helfen, zu mir, genau zu mir hat sie Vertrauen!
Der Wunsch ihr unbedingt helfen zu wollen, ja, helfen zu müssen, macht sich schnell und unaufhaltsam in mir breit und hat natürlich nichts, aber auch gar nichts mit der Attraktivität der jungen Frau zu tun. Für eine 80jährige Frau würde ich dies natürlich mit gleicher Empathie auch tun, na gut, für eine 70jährige auf jeden Fall.
Die typischen Fragen, um sich ein besseres Bild über den Schmerz und die möglichen Ursachen machen zu können, ich spüre wie jahrzehntelange ärztliche Erfahrung versagt, auf alle Fragen bekomme ich negative Antworten. ‚Nein, in diesen Situationen ist der Schmerz nicht …‘. Meine anfangs euphorische diagnostische Freude, meiner Überzeugung, ich werde ihr helfen können, weicht langsam der schlichten Ernüchterung, nur nicht versagen!
Eine kurze Untersuchung, wobei ihr kurzer, überaus knapper und nur aus dünnster Spitze bestehender Slip meine ärztliche Konzentration auch nicht nachhaltig fördert und mir schon gar keinen Gedankenblitz beschert, zumindest keinen im Hinblick auf die unerträgliche Schmerzen in ihrer Hüfte. Die Hüften sind gut beweglich, keine Entzündungszeichen, und nein, ‚wenn sie so an meinem Bein drehen, dann kommt der Schmerz nicht‘.
Noch mehr Hilflosigkeit, "sie können sich wieder anziehen", ich bin enttäuscht von mir und überlege bereits, wie ich aus dieser Nummer heraus komme ohne mich zu blamieren und sie nicht zu enttäuschen. Sie hat doch Vertrauen zu mir!
Es rattert in meinem Kopf, um Zeit zu gewinnen und überhaupt etwas zu sagen, stelle ich nochmals die üblichen diagnostischen Fragen, ‚habe ich das vorhin richtig verstanden‘, wieder die gleichen mir nicht weiterhelfenden Antworten.
Wir sitzen uns wieder gegenüber, wie komme ich ohne Gesichtsverlust aus der Nummer heraus?
Der letzte Gedanke um mir Luft zu verschaffen, ‚können sie mir die Situation einmal zeigen, in der die Schmerzen am Schlimmsten sind?‘
‚Am Schlimmsten? Ich habe nur in einer Körperhaltung den Schmerz!‘
Mir fällt ein Stein vom Herzen, ‚können Sie mir das zeigen?‘ Ich hoffe, es gelingt mir konzentriert und ernst daher zu schauen.
‚Na klar‘, sie steht auf, stellt sich neben den Tisch vergewissert sich mit ihrem Augenaufschlag, dass ich auch aufmerksam bin und alles sehen kann.
Sie verlagert das Gewicht auf das rechte Bein, hebt das linke Bein an, bis die linke Ferse das rechte Knie berührt, sie stellt den linken Fuss auf das rechte Knie, beugt sich leicht vor und berührt mit einer streichenden Bewegung der Hände ihren Unterschenkel.
„‚Sehen sie, so‘, sie verzieht schmerzhaft das Gesicht, ‚jetzt ist es da und wenn ich eine kurze Zeit so stehen bleibe, dann wird der Schmerz immer schlimmer, das muss weg‘.
Ich bemühe mich um eine ernstes Nicken, so als verstände ich die Situation wirklich, ‚aha, das habe ich verstanden‘. Meine Stimme klingt mir ob der Lüge selbst heisser und zu trocken, nichts, aber auch gar nichts habe ich verstanden.
Sie sieht mich, wie mir scheint oder wie ich hoffe dankbar an und nachdem sie sich wieder gesetzt hat, gestatte ich mir die Frage: ‚Wann stehen sie denn eigentlich so?‘.
Erstaunt sieht sie mich an, so als könne sie sich nicht vorstellen, dass man diese Frage überhaupt stellen muss, ‚immer freitags, wenn ich mir unter der Dusche die Beine rasiere‘.
Es fällt mir nicht schwer an meine dicht behaarten Beine zu denken, die noch nie Bekanntschaft mit einer Rasierklinge gemacht haben, es ist wohl ein Generationen- oder ein Genderproblem.
„Immer freitags, wenn sie sich unter der Dusche die Beine rasiert!“
Mein Rat, dann eben für diese wichtige Tätigkeit einfach eine andere Körperhaltung zu wählen, etwa eine Duschhocker, enttäuscht sie sichtlich, ‚sie wäre doch keine alte Frau‘ hier stimme ich ihr zu, sie zuckt mit den Schultern, wir verabschieden uns, beide ernüchtert.
Ich habe ihr nicht helfen können.
Mit Sicherheit war sie inzwischen bei ihrem Heilpraktiker!
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